Sifu Leonard Lackinger ist direkter Schüler von Sifu Wong Kiew Kit sowie offizieller Instructor und Leiter von Shaolin Wahnam Wien. Der Begriff Sifu drückt in chinesischen Kampfkünsten den besonderen Respekt vor dem Lehrer als “väterlichem Meister” aus. Diese Bedeutung entspricht dem Japanischen “Sensei” (zB. auch bei Meistern von Karateschulen).
Die Lebensweisheit der uralten und vom Buddhismus geprägten Shaolin-Philosophie überträgt er in die tägliche Praxis und gibt die Shaolin-Künste mit Begeisterung auf den modernen Alltagweiter. Für Sifu Leonard ist es wichtig seinen Schülern mitzugeben, wie sie mit diesem Denken ihre Ziele besser erreichen sowie ein angstfreies und ausgeglichenes Leben führen können. Sie auf ihrem Weg zu mehr Ausgleich und Energie zu begleiten, ist ihm eine Freude. Im Interview spricht er über die wichtigsten Handlungsmodelle der Shaolin und erklärt, wie wir selbstbestimmt handeln und Veränderungen aktiv gestalten können.

War das der Grund, warum Sie mit dem Shaolin Kung-Fu anfingen?
Während ich selbst immer sportlich war, Fußball und Basketball gespielt habe, sowie Skateboard und Snowboard gefahren bin, war ich schon immer an Meditation und Kampfkunst interessiert. Von Kung Fu erhoffte ich mir das körperliche mit dem geistigen Training zu verbinden. Eines Winters, gelangweilt davon immer nur vor dem Computer zu sitzen, weil es nicht möglich war draußen zu spielen, fasste ich dann den Entschluss Shaolin Kung Fu auszuprobieren. Seitdem trainiere ich.Und je länger ich praktiziere, desto mehr gute Gründe finde ich weiter zu üben.
Woraus schöpfen Sie ihre Energie?
Aus meiner täglichen Praxis der Shaolin-Künste. Mein Tag beginnt mit Shaolin Qi Gong und endet mit meinem Kampfkunst-Training, also Shaolin Kung Fu und Tai Chi Chuan. Die einzigartige Übungsweise in Shaolin Wahnam, mit der wir bei jeder Trainingseinheit „Chi Flow“, also kraftvollen Energiefluss auslösen, verhilft uns dazu uns rasch aufzutanken.Unser effizientes Training benötigt bei Qi Gong nur etwa 10 Minuten und bei unseren Kampfkünsten 30-60 Minuten. Das lässt sich wunderbar in den Alltag integrieren, ganz gleich wie beschäftigt man zu sein glaubt. Ob wir Shaolin Qi Gong, Shaolin Kung Fu oder Tai Chi Chuan praktizieren, wir betreiben stets „dreifache Kultivierung“. Die „drei Schätze“, also Jing (die Materie, aus der Körper besteht), Chi (die Lebensenergie) und Shen (Geist, Bewusstsein, Seele) werden gereinigt und gestärkt.
Was macht Shaolin-Mönche so stark, denn oft scheint es so, als besitzen sie übermenschliche Kräfte und übernatürliche Fähigkeiten?
Das tägliche Training führt dazu, dass sehr viel Chi zu innerer Kraft gebündelt wird. Das wiederum verschafft einen kraftvollen und klaren Geist. Diese Faktoren ermöglichen es Dinge zu vollbringen, die anderen Menschen unmöglich erscheinen. Klassische Überlieferungen berichten von Meistern, die ein ausgewachsenes Pferd mit einem sanften Klaps töten oder einen Stier mit bloßen Händen unter Kontrolle halten konnten. Auch mein Großmeister, Ho Fatt Nam, kämpfte sich einst, mit einem Speer bewaffnet, unverletzt aus einem Kampf mit 35 Bewaffneten heraus, die sein Haus überfallen hatten, während er seine Frau und Kinder beschützte. Mein Sifu, Wong Kiew Kit, wurde bei einer erbetenen Demonstration – entgegen der Abmachung – gleich mit voller Wucht mit einem scharfen Küchenbeil geschlagen, welches einfach von ihm abprallte und durch den Raum geschleudert wurde.
Während die akrobatischen Leistungen von Show-Mönchen natürlich unterhaltsam und imposant sind, sollte man sich aber daran erinnern, dass Kung Fu nicht in erster Linie dafür gedacht ist, um andere zu beeindrucken. Dass es schön und beeindruckend aussieht, ist ein angenehmer Nebeneffekt. Viel sinnvoller erachte ich außerdem die Fähigkeiten Menschen mit gesundheitlichen Beschwerden zu begleiten, sei es durch Energieübertragung oder durch den Unterricht heilsamer Übungen. Ich kann verstehen, wenn dies von vielen Menschen als übernatürlich und/oder unwahr angesehen wird. Die Hauptgründe dafür sind mangelnde Erfahrung damit sowie fehlendes Hintergrundwissen über die traditionelle chinesische Medizin. Außerdem ist tatsächlich wirkungsvolles Qi Gong, trotz großer Verbreitung von Qi Gong-Gymnastik, selten zu finden.
Stimmt es, dass Faszien wie Muskeln eine Energiequelle für Bewegungen sind?
Die Faszien sind eine recht neue, wenngleich spannende Entdeckung. Manche Forscher erhoffen sich eine physische Übereinstimmung zum Meridiansystem und seinen Vitalpunkten darin entdeckt zu haben und so eine Brücke zwischen der fernöstlichen und der westlichen Medizin zu schlagen. In der TCM wird das System der Sehnen und Bänder als „Jin“ zusammengefasst. Es steht in enger Verbindung mit dem Gallenblasensystem, sowie den Muskeln. Die Faszien wurden – meines Wissens – nicht extra angeführt.
In hochwertigem Shaolin Kung Fu und Tai Chi Chuan spielt Muskelkraft eine untergeordnete Rolle. Während Shaolin Kung Fu gemeinhin als extern angesehen wird, ist es doch die wohl kraftvollste und vielfältigste innere Kampfkunst. Unsere Kraft ziehen wir daher nicht aus auftrainierter Muskelmasse oder den Faszien, sondern vielmehr aus dem Chi, der allumfassenden Energie, welche wir als innere Kraft speichern.
Im Kung Fu sollte die Kraft jeder Bewegung aus dem Dantian, unserem Energiefeld im Unterbauch, kommen. Die 6 Harmonien beschreiben, dass jede Bewegung bei den Füßen startet, dann rotieren Hüfte und Bauch und schließlich endet die Bewegung in den Händen. Außerdem soll der Körper dabei entspannt und geschmeidig sein, die Energie im Dantian ruhen und zugleich harmonisch fließen und der Geist fokussiert sein. Hat man dieses Konzept verinnerlicht, wird jede Bewegung zum kraftvollen Meisterstück.
Erklären Sie uns doch bitte den Unterschied zwischen Kung Fu, Tai Chi und Qi Gong.
Zwischen Tai Chi Chuan und Kung Fu gibt es traditionell keinen Unterschied, da Tai Chi Chuan ein Kung Fu-Stil ist, ebenso wie Shaolin Kung Fu oder Wing Chun Kung Fu. Obwohl Tai Chi die verbreitetste aller Kampfkünste ist, ist vielen Praktizierenden heute nicht mehr bewusst, dass man damit auch kämpfen kann. Darum ist das „Chuan“, das wörtlich für „Faust“ und sinngemäß für „Kampfkunst“ steht, zunehmend verschwunden, während wir es bewusst erwähnen.
Shaolin Kung Fu ist vergleichsweise härter und Tai Chi Chuan weicher. Dennoch kann Shaolin Kung Fu sehr weich und geschmeidig sein, während Tai Chi Chuan auch hart und schnell sein kann, besonders wenn es im Kampf eingesetzt wird.
Qi Gong besteht aus zumeist simplen Übungen, die in einem meditativen Geisteszustand ausgeführt werden. Teilweise sind das sanfte bewegte Techniken, teilweise stille Standpositionen. Wie der Name bereits verrät, handelt es sich bei Qi Gong und die „Kunst der Energie“. Das Ziel ist es, den Energiefluss anzuregen, von Blockaden zu befreien und harmonisch zu halten. Dies kann die Gesundheit, die Vitalität, die Leistungskraft und die spirituelle Kultivierung fördern. Um das Ganze abzurunden, füge ich noch eine vierte Kategorie hinzu, nämlich Meditation. Viele denken, es wäre nötig dazu im Lotussitz am Boden zu sitzen, dabei ist die äußere Form nicht das Entscheidende. Was zählt, ist den Geist frei von Gedanken zu halten oder sich auf einen Gedanken (z.B. den Atem, eine Empfindung, ein Mantra, …) zu fokussieren.
Nach unserer Definition sind Shaolin Kung Fu und Tai Chi Chuan sowohl Meditation als auch „Qi Gong“, also ein Training von Geist und Energie. Der Unterschied zwischen Qi Gong und Kung Fu ist jedoch, dass man mit Qi Gong-Übungen allein nicht kämpfen kann.
Kann man durch Kung-Fu Erleuchtung erlangen?
Ob Kung Fu zur Erleuchtung führen kann, hängt sehr von der Art und Tiefe der Ausübung ab. Traditionell wird Kung Fu in drei Klassen unterteilt:
– Drittklassiges Kung Fu dient der Kampfanwendung.
– Zweitklassiges Kung Fu dient der Kampfanwendung und der Gesundheit.
– Erstklassiges Kung Fu dient der Kampfanwendung, der Gesundheit und der spirituellen Kultivierung.
Das meiste Kung Fu heutzutage beschränkt sich auf die Darbietung von schöner, äußerer Form. Viele Wushu-Praktizierende wissen nicht, wie sie die klassischen Techniken effektiv einsetzen können, weshalb es in keine dieser Kategorien passt. Auf der anderen Seite steht Sanda, das chinesische Kickboxen. Beide moderne Arten schaden eher der Gesundheit, welche die Basis für spirituelle Entwicklung bildet. Traditionelles, erstklassiges Kung Fu ist ein sehr kraftvolles Mittel, um sich für den schwierigen Weg zur Erleuchtung zu stärken und vorzubereiten. Nicht umsonst hat der, aus dem Shaolin-Kloster abstammende, Zen-Buddhismus so viele Erleuchtete hervorgebracht.
Um tatsächlich die Erleuchtung zu erlangen, ist aber auch ein anderer Faktor notwendig, nämlich alles Weltliche loszulassen. Nur wenige sind bereit und gewillt dazu Mönch oder Nonne zu werden, was die idealen Voraussetzungen für die Kultivierung zum höchsten Ziel schaffen würde. In Shaolin Wahnam haben viele fortgeschrittene Schüler „Satoris“, also spirituelle Erweckungsmomente, während ihrer Praxis erlebt. Da wir als Laien aber allesamt noch Aufgaben in unserer hiesigen Welt haben, kehren wir nach einem kleinen Einblick in die kosmische Wirklichkeit, das Universum, Gott oder wie immer man das große Ganze nennen möchte, wieder zurück in unsere alltägliche Welt. Während solche Erlebnisse durchaus lebensverändernd sein können und die Kraft der authentischen Shaolin-Künste belegen, sind besonders die „niedrigeren“ spirituellen Effekte, sich nämlich friedvoll und glücklich zu fühlen, ein großer Segen für unser Leben.

Zahlreiche Menschen leben heute ein nach außen angepasstes und vermeintlich glückliches Leben, sind aber tief im Inneren nicht zufrieden damit, da es nicht ihrem wahren Wesen entspricht. Warum fällt es heutzutage vielen so schwer, neue Wege einzuschlagen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen?
Leider führen Leistungsdruck und der reine Fokus auf den Intellekt dazu, dass Burn-Out und Depressionen zu den häufigsten Erkrankungen zählen. In der TCM spricht man bei Depressionen davon, dass das Shen (Geist & Seele) eingesperrt ist und sich nicht entfalten kann. Qi Gong ist hier eine wunderbare Möglichkeit, um sein Herz wieder zu öffnen und wieder seiner Intuition zu folgen.
Spiritualität ist in unserer rationalen Gesellschaft oft negativ behaftet. Wer eine Religion ausübt, wird rasch als primitiv oder rückständig angesehen. Ich sage nicht, dass man unbedingt eine Religion ausüben sollte, dennoch ist es wichtig dem Geist und der Seele etwas Ruhe und Ausgleich zu gönnen. Ich denke, viele haben einfach Angst davor ihr Leben grundlegend zu ändern und bleiben auf der vermeintlich sicheren Spur, also dem Gewohnten.
Gleichzeitig ist im Westen aber auch ein spirituelles Erwachen oder zumindest Suchen zu bemerken. Während der Osten sich wirtschaftlich weiterentwickelt und verwestlicht hat und seine Wurzeln vergisst, zieht es im Westen immer mehr Leute zu verschiedensten Arten von Meditation und anderen Formen der Kultivierung. Unser Training ist ein gutes Beispiel dafür, dass man sein „normales“ Leben effizienter und glücklicher gestalten kann, ohne alles aufgeben zu müssen. Einige meiner Schüler haben ihr Leben komplett umgekrempelt, andere haben ihr bestehendes Leben effizienter gemacht und mit Freude erfüllt.
Welche Rolle spielt das Thema Veränderung in Tradition und Denken der Shaolin?
Unsere Praxis hilft uns dabei uns schneller an äußere Veränderungen anzupassen, seien es Temperaturunterschiede, Jetlag, ansteckende Krankheiten, die gerade herumgehen, oder soziale Umstände und Beziehungen. Wir sind für alles besser gerüstet und haben Reserven, auf die wir bei Bedarf zugreifen können. Auch auf unsere Persönlichkeit kann unser Training sehr transformierend wirken. Es verhilft uns dazu, zur besten Version von uns selbst zu werden. Auch die Shaolin-Künste haben, ebenso wie der Zen-Buddhismus, eine Evolution von über 1500 Jahren hinter sich. Natürlich haben sich seither viele Dinge verändert und die Künste haben sich angepasst und verfeinert. Während hohe Fertigkeit im Kung Fu früher oft notwendig war, um zu überleben, begreifen wir es heute als ein Werkzeug, um Gesundheit, Vitalität und Leistungskraft zu fördern. Nichtsdestotrotz trainieren wir auch die Kampfanwendung, ohne die Kung Fu zur leeren Hülle würde. Der Fokus im Training hat sich also an die äußeren Umstände, in einer zum Glück relativ friedlichen Zivilisation angepasst. Im Ernstfall wissen wir aber uns zu verteidigen.
Wie können wir lernen, Veränderungen nicht als Gefahr zu begreifen und besser damit umzugehen?
Alles ist ständig im Fluss und das einzig Beständige ist der Wandel. Das ist eine Gesetzmäßigkeit, ebenso wie die Gravitation und, dass die Sonne von Osten nach Westen zieht. Das muss man akzeptieren und sich damit abfinden. Wann immer Veränderung zur Gefahr für andere oder einen selbst wird, sollte man aber natürlich mutig sein und die Schwachen unterstützen. Eine Fähigkeit, die wir ständig trainieren, ist Loszulassen. Das gilt vor allem für Blockaden, aufgestaute Emotionen und unheilsame Denkmuster. Aber ebenso für Dinge, Zeiten und Menschen, die nun nicht mehr da sind oder sich einfach verändert haben. Was wir auch gerne in unsere Praxis einbauen, sind sowohl Dankbarkeit für die Dinge, die wir (trotz mancher Rückschläge noch) haben, und Menschen zu vergeben, von denen wir denken, dass sie uns Leid zugefügt haben.
Nach Großmeister Wong Kiew Kit gibt es zwei Wege etwas zu tun: Den negativen Weg, und den Shaolin Wahnam Weg, beschreiben Sie uns doch diesen Weg.
Man kann sich immer entscheiden, wie man eine Situation interpretiert. Wir erkennen schwierige Situationen nicht als Problem, sondern vielmehr als Herausforderung uns zu weiter zu verbessern und Lösungen zu finden. Stehen wir vor schwierigen Aufgaben, verzweifeln wir nicht, sondern geben unser Bestes, um diese zu meistern.
Nennen Sie uns 3 Dinge, die wir von Shaolin-Mönchen lernen können.
Der Shaolin-Tempel ist die Geburtsstätte des Zen-Buddhismus. Eine der wichtigsten Lehren daraus ist „Lebe im Moment“. Die Partnerübungen im Kampfkunsttraining lassen uns keine andere Wahl als im Moment zu leben. Wenn eine Faust auf einen zufliegt, kann man nicht über gestern und morgen nachdenken, sondern muss reagieren, oft noch bevor ein Gedanke vergeht. Auch die Meditation, wie in unserem Qi Gong-Training, holt uns in den Moment, zum Beispiel indem wir die angenehmen Effekte der Praxis genießen. Das lässt sich dann auch auf das alltägliche Leben übertragen. Wir lernen den Moment zu genießen, anstatt ständig nur Sorgen und Gedanken herumzuwälzen.
Eine der wichtigsten Lehren meines Großmeisters, Ho Fatt Nam, ist „Habe immer nur gute Gedanken“. Schon Buddha lehrte „Mit unseren Gedanken erschaffen wir unsere Welt“. Daher sollten wir einen starken und klaren Geist kultivieren, mit dem es uns möglich ist, unsere Gedanken zu zähmen und uns für gute entscheiden. Zum eigenen Wohl und dem aller Menschen, mit denen wir zu tun haben. Die wohl wichtigste Anweisung im Training von Shaolin Wahnam und zugleich eines unserer Mottos ist „Lächle aus dem Herzen“. Es ist immer wieder erstaunlich wie kraftvoll und transformierend diese simple Technik sein kann, sowohl im Training als auch im Alltag.
Was ist ihr persönlicher Sinn des Lebens?
Ich finde, der Sinn des Lebens ist es, dem Leben einen Sinn zu geben: Ich möchte für meine Familie sorgen und für sie da sein, meine Eltern und – nicht zuletzt – meinen Sifu stolz machen, um ihnen für alles zu danken, was sie für mich getan und mir beigebracht haben. Außerdem sehe ich es als meine Aufgabe die positiven Effekte der Shaolin-Künste weiterzugeben und für die Nachwelt zu bewahren sowie meinen fleißigen Schülern bei Ihrer persönlichen Entwicklung zur Seite zu stehen!
(Fotos&Videos: Sifu Leonard Lackinger)